Trauer, Hoffnung und Hilfe nach über einem Jahr Krieg

Von links: Markus Burri, Pater Mykhaylo Chaban und Waise Vladyslav Bonda. (Fotos: Gabriel Müller)

Die systematische Verschleppung Tausender Kinder in der Ukraine ist eine der schwerwiegendsten Schattenseiten des unsäglichen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Während die Welt über Frontverläufe und Waffenlieferungen diskutiert, leiden traumatisierte Kinder in der Ukraine und der erzwungenen Diaspora im Stillen.

Die offizielle Anklage vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gegen den russischen Präsidenten und Kriegstreiber, Wladimir Putin, erregte kürzlich internationales Aufsehen. Insbesondere der Hauptanklagepunkt betreffend die systematische Verschleppung ukrainischer Kinder nach Russland mit allen damit verbundenen Traumatisierungen. Pater Mykhaylo Chaban, Provinzial der Salesianer Don Boscos und damit Nothilfeleiter der Salesianer Don Boscos in der Ukraine, besucht dieser Tage die Schweiz und schildert die dramatische Situation in seinem Waisenhaus in Lviv (Lemberg) sowie die humanitäre Hilfe, die sein katholischer Orden – teilweise unter lebensgefährlichen Bedingungen – tagtäglich für Tausende Menschen leistet. Auf Einladung von Markus Burri, Geschäftsleiter der Don Bosco Jugendhilfe Weltweit in Beromünster (Kanton Luzern), ist Pater Mykhaylo Chaban, oberster Nothilfekoordinator der Salesianer Don Boscos in der Ukraine, gemeinsam mit dem Waisenjungen Vladyslav Bonda direkt von den laufenden Hilfsprojekten ins Land seiner zahlreichen Unterstützer gereist.

ON: Pater Mykhaylo, Sie haben seit mehr als einem Jahr in der Ukraine viel Leid gesehen und Hoffnung geschenkt. Wie genau?
Pater Mykhaylo: Wir setzen uns mit der Unterstützung aus der Schweiz insbesondere für Kinder, Jugendliche und Familien inmitten der Kriegswirren ein. Meine Mitbrüder fahren wöchentlich und unter Einsatz ihres Lebens in die schwer umkämpften Frontgebiete im Osten, um die dort verbliebene ­Zivilbevölkerung mit humanitären ­Gütern wie Nahrung und Kleidern zu versorgen. So haben wir bereits mehr als 100 Tonnen Hilfsgüter verteilt, auch an Menschen in Ruinen und Luftschutzkellern an der Ostfront.

Wer ist von diesem Krieg in ihren Augen am schwersten betroffen?
Pater Mykhaylo: Am meisten zu leiden haben sicher Kinder und Jugendliche. Genau sie stehen im Fokus unserer täglichen Hilfeleistungen. Sie sind dem brutalen Kriegsgeschehen hilflos ausgeliefert und werden zu Tausenden im Osten der Ukraine verschleppt, nach Russland. Jeder kann sich vorstellen, was es an Traumatisierungen auslöst, wenn Kinder aus den Kampfhandlungen heraus, nach Bombardements und manchmal auch dem tödlichen Verlust von Angehörigen von Soldaten in ein fremdes Land deportiert werden.

Was tun Sie für die leidenden Kinder in der Ukraine?
Pater Mykhaylo: Regelmässig evakuieren wir Kinder aus dem Kriegsgebiet. Einmal waren es sogar 40 Kinder aus einem Luftschutzkeller, die bereits 40 Tage lang dort ohne Trinkwasser und Hygiene ausharren mussten. Sie waren nur für die Notdurft und um mit dem Schnee Wasser aufzunehmen in Feuerpausen ins Freie gegangen. Wir konnten sie mit gepanzerten Fahrzeugen aus ihrer lebensbedrohlichen Situation befreien und zu uns ins Don Bosco Familienhaus bringen. Viele von ihnen zucken heute noch zusammen, wenn es ein lautes Geräusch gibt.

Wie helfen Sie diesen Kindern?
Pater Mykhaylo: Im ersten Moment geht es um Stabilisierung, um ein Gefühl des Geborgenseins, um Halt, um Vertrauen ins Leben und eine bessere Zukunft. Neben der Grundversorgung mit Nahrung, Kleidung und geheizten Wohnräumen geht es uns auch um soziale Interaktion untereinander, um Bewegung und Sport, aber auch um Bildung und einen geregelten Tages­ablauf. Gemeinsam mit Fachpsychologen helfen wir den Kindern, die erlebten Traumata zu verarbeiten.

«Ich hoffe auf Frieden in der Ukraine.»

Was sind dabei die schwierigsten Situationen?
Pater Mykhaylo: Wir haben aktuell drei Kinder bei uns im Waisenhaus, die noch nichts vom Tod ihrer Eltern wissen. Sie sind noch zu instabil auf allen Ebenen, um diese Nachricht verkraften zu können. So arbeiten wir gemeinsam mit erfahrenen Psychologen daran, den richtigen Zeitpunkt zu finden, um die schwarzen Flecken auf der Seele, die mit dieser Schreckensbotschaft ausgelöst werden, möglichst klein zu halten. Wenn wir dann mit einem dieser Kinder bei uns seinen Geburtstag feiern und es beim Auftragen der Geburtstagstorte den innigen Wunsch äussert, mit seiner Mama telefonieren zu dürfen, dann fällt es auch uns schwer, diesem Kind mit einem vertrauenden Lächeln Freude und Hoffnung zu schenken. Aber wir schaffen das.

Was hoffen Sie für die Zukunft?
Pater Mykhaylo: Ich hoffe auf Frieden in der Ukraine. Ich hoffe, dass die Verschleppungen unserer Kinder aufhören. Ich hoffe, dass wir bald unser Land mit aller Kraft wieder aufbauen können  für eine lebenswerte Zukunft unserer Kinder.

Vladyslav Bonda, wie ergeht es euch aktuell im Waisenhaus in Lviv?
Vladyslav Bonda: Ich bin seit dem Tod meiner alleinerziehenden Mutter vor sechs Jahren im Don Bosco Haus für Waisenkinder in Lviv. Ich habe hier ein neues Fundament, eine Familie und Freude am Leben erhalten. Aktuell mache ich eine Ausbildung in Informationstechnologie und will einer der ersten sein, der dabei hilft, die Ukraine wieder aufzubauen. Doch kann die Ausbildung wegen der regelmässigen Bombardements nur online stattfinden und bei jedem Luftschutzalarm müssen wir in Windeseile in sichere Bunker laufen. Dort sitzen wir dann, oft auch für Stunden. Die Zeit steht dann still. Nichts geht mehr. Ich habe in diesem Krieg gelernt, kein Kind mehr zu sein.

Markus Burri, wie organisieren Sie seitens der Don Bosco Jugendhilfe Weltweit die Hilfe aus der Schweiz?
Markus Burri: Wir helfen, wo immer und so viel wir können. Das Waisenhaus in Lviv haben wir schon vor Ausbruch des Krieges in der Ukraine unterstützt, da ging es um ganzheitliche Förderung der Kinder und Jugendlichen mit Bildung und Sport. Seit mehr als einem Jahr leisten wir vorrangig humanitäre Nothilfe, Hand in Hand mit Pater Mykhaylo und seinem Team der Salesianer Don Boscos in der Ukraine. Eines der schönsten Beispiele unserer Hilfe ist ein kleines Container-Dorf am Don-Bosco-Grundstück in Lviv: Hier haben mehr als tausend Binnengeflüchtete aus der Ukraine Unterkunft gefunden und werden täglich mit warmen Mahlzeiten, medizinischer Versorgung und allem, was notwendig und möglich ist, unterstützt. 250 Kinder sind allein hier im behelfsmässigen Flüchtlingscamp untergebracht. Wir danken allen Privatpersonen und Stiftungen in der Schweiz und in Liechtenstein, welche diese tagtägliche Hilfe durch ihre Spenden möglich machen. Denn ohne diese Hilfe wären auch wir hilflos.

Pater Mykhaylo und seine Waisenkinder im Waisenhaus in Lviv, regelmässig müssen sie bei Luftschutzalarm für Stunden in Keller und Bunker flüchten.
Trotz der weiterhin schwierigen Umstände wird versucht, den Kindern über die Schrecken des Krieges so gut wie möglich hinwegzuhelfen.

Gibt es ausser der Ukraine noch weitere Brennpunkte der Not, wo Sie helfen?
Markus Burri: Die humanitäre Katastrophe aufgrund des Kriegsgeschehens in der Ukraine verlangt viel Fokus und Hilfe durch unsere Schweizer Hilfsorganisation. Parallel dazu waren unsere Don-Bosco-Einrichtungen nach dem jüngsten, verheerenden Erdbeben in Syrien stark betroffen und mussten aktive Nothilfe für die Erdbebenopfer in Aleppo leisten, wo die ganze Wiederaufbauarbeit erst noch bevorsteht. Und dann haben wir noch die globale Ernährungskrise aufgrund der gestiegenen Weltmarktpreise, die Millionen Menschen in unseren Fokusländern in Afrika, Asien und Lateinamerika an ihre Überlebensgrenzen bringt. Mit der Don Bosco Jugendhilfe Weltweit tun wir jeden Tag, was wir können. Für uns gibt es nur ein «sowohl als auch» und kein «entweder oder». Wir folgen dem Vorbild von Don Bosco, für den Aufgeben nie eine Option war: Die Kinder auf unserer Welt haben es verdient, Hilfe und Hoffnung zu erhalten.

Gabriel Müller, Mitglied der Geschäftsleitung Don Bosco Jugendhilfe Weltweit

Infos und Spendenmöglichkeiten unter www.donbosco.ch

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