Die Entstehung der Eidgenossenschaft wird gefeiert, obwohl es den Rütlischwur in dieser Form wohl nie gegeben hat. Es ist einfach die bessere Story.
«Nenne mir die Fakten und ich werde lernen. Sage mir die Wahrheit und ich werde glauben. Aber erzähle mir eine Geschichte, und sie wird für immer in meinem Herzen weiterleben.» Dieses Sprichwort amerikanischer Ureinwohner steht am Eingang zur Ausstellung «Die Macht der Erzählung» im Vögele Kultur Zentrum an die Wand geschrieben.
Aus Mythos wird Fakt
Erzählungen sind für die Menschen von grosser Bedeutung. Wie die von der Entstehung der Schweiz. Die Geschichte vom Rütlischwur galt lange als Gründungsakt der Eidgenossenschaft. Hier sei die Schweiz 1291 durch die Revolutionsführer der Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden gegründet worden, die sich gegen das tyrannische Joch der Habsburger Vögte wehrten. Auf einer Bergwiese inmitten der Urschweiz, mit erhobenen Schwurfingern. Die Wiederentdeckung des Bundesbriefs, im Bundesbriefmuseum in Schwyz zu sehen, bezeugte das Datum der Geschichte. Durch das rechtskräftig aufgesetzte Dokument wurde der Rütlischwur gleichsam zur Tatsache erhoben. Es war die Grundlage, um sich auf den 1. August 1291 als Gründungstag der Schweiz zu einigen.
Geschichten verbinden
Der 1. August wird allerdings erst seit 1891 gefeiert. Und warum eigentlich dieses Datum? Nach einer Chronik aus dem Mittelalter galt bis weit ins 18. Jahrhundert der 8. November 1307 als Zeitpunkt des Rütlischwurs. Wäre es ohnehin nicht sinnvoller gewesen, den 12. September 1848 zum Nationalfeiertag zu erklären? Dies ist der Tag der Verfassungsgebung der demokratischen Schweiz. Doch an diesem Punkt wirkt wohl die Macht der Erzählung.
Erzählung und «Kuschelhormon»
Im Vögele Kultur Zentrum in Pfäffikon ist derzeit – neben der Hauptausstellung «Was Macht mit uns macht» – eine spannende Zusatzausstellung zu erleben. An fünf Stationen wird «Die Macht der Erzählung» aus fünf Perspektiven beleuchtet. Anhand von fiktiven Figuren erfahren die Besucher Wissenswertes unter anderem darüber, wie Erzählungen prägen. Zum Beispiel die Geschichten, die wir als Kinder (zu) hören (bekommen). Aber auch darüber, wie Geschichten beeinflussen können, zum Beispiel im Social-Media-Post. Aufschlussreich ist die fiktive Wissenschafterin, die erläutert, welche Prozesse in unserem Körper vorgehen. Wenn wir zuhören, und sei es nur der Geschichte einer Kollegin, die ihr Handy verloren hat, werden die gleichen Gehirnregionen aktiviert wie beim Erzählenden. Die Gehirnaktivitäten werden gekoppelt, zudem wird der Botenstoff Oxytocin ausgeschüttet, im Volksmund bekannt als «Kuschelhormon» oder «Treuehormon». Dieser Botenstoff weckt in uns Mitgefühl für unser Gegenüber sowie Liebe, Vertrauen und Ruhe, sagt die Forschung. Je mehr wir uns mit einer Geschichte identifizieren können, desto mehr Oxytocin werde ausgeschüttet. Das wissenschaftliche Fazit: «Geschichten sind eines der mächtigsten Mittel, um mit anderen Menschen in Beziehung zu treten, Empathie im Gegenüber zu wecken und die eigenen Ideen und Wertvorstellungen zu vermitteln.» Erzählungen prägen, beeinflussen und verbinden den Menschen.
Geschichten verbinden
Sicherlich erklärt dies teilweise, wieso eine historisch widerlegte Story wie die verschwörerische Zusammenkunft auf einer Bergwiese im Kanton Uri bis heute eine solche Faszination entfaltet. Der Rütlischwur werde wohl deshalb gefeiert, weil «das Kraftprotzentum unserer Vorfahren» mit ihren Schlachten auf uns grösseren Eindruck mache, witzelte der Schweizer Schriftsteller Peter Bichsel. Offenbar mehr als die politische Leistung der eigentlichen Staatsgründung. Dabei ist diese kaum hoch genug zu bewerten, gelang sie doch in einer politisch äusserst turbulenten Zeit der europaweiten Revolutionen und Gegenrevolutionen. Wie, wann und wo eine Geschichte erzählt wird, verrät auch, welche Interessen dahinterstecken. Der Ausschuss, der einst die Einführung von einem Nationalfeiertag forderte, wollte durch die Hintertür das 600-jährige Bestehen von Bern mit der Gründung der Schweiz verknüpfen. Dagegen regte sich Widerstand. Der Anlass müsse in der «Wiege der Schweiz» stattfinden. Nach einigem Streit zwischen den Urkantonen einigte man sich auf Schwyz. Die Gründung der Eidgenossenschaft wurde 1891 erstmals in Brunnen gefeiert.
Emotionen bleiben
Doch genug gefachsimpelt. Das Schönste an einer Erzählung ist, dass die Emotionen, die sie in uns weckt, länger nachhallen als Fakten. Wir können also noch so viel über die Entstehung der Schweiz recherchieren und noch so viele wissenschaftlich fundierte Tatsachen in Erwägung ziehen – am Ende feiern wir lieber eine gute Geschichte, weil sie für immer in unserem Herzen weiterlebt.
Rafael Muñoz