Ausstellung der IG Halle im Kunstzeughaus Rapperswil

Künstler Noah di Bettschen. Foto: zVg

Wild ist der zweite Teil der Ausstellungstrilogie weit – wild frei.

Nachdem weit das Lebensgefühl im Jahr 2020 überraschend deutlich traf und die Besucher auf verschiedenen Ebenen in die Weite lockte, führt wild in ein Assoziationsfeld um das Chaotische, Anarchische, Ursprüngliche. Die Ausstellung findet das Wilde in der Natur genauso wie im Menschen, im Bildinhalt ebenso wie in der Arbeitsweise der sieben Kunstschaffenden. Sie konfrontiert Illusion und Wirklichkeit von Wildnis und lässt die Faszination des Unbekannten erfahren. Es treffen unter anderem berühmte Werke wie Andy Warhols Electric Chairs und die allererste Werkserie des jungen Künstlers Noah di Bettschen aufeinander. Zweifellos wild anzusehen sind die Bilder von Noah Di Bettschen. Sie geben Einblick in die ersten zwölf Monate seines künstlerischen Schaffens. Seit 2021 ist eine Welt intensivsten Ausdrucks entstanden, bestehend aus Schreiben, Zeichnen und Malen. Die Bilder kreisen um die eigene Persönlichkeit als Sohn eines drogenabhängigen und jung verstorbenen Vaters. Entsprechend der kontinuierlichen Suche nach sich selbst steht meistens eine Figur im Zentrum, umgeben von Texten und Zeichnungen, die den endlosen Strom von Gedanken illustrieren. Seine Bilder präsentiert Noah Di Bettschen auf rohen, unregelmässig zugeschnittenen Leinwänden ohne Rahmen. Das erklärte Ziel ist der vollkommen authentische Ausdruck von Emotionen ohne die Filter gesellschaftlicher Konvention.

Urmaterie als dynamische Skulptur
Diesem persönlichen inneren Universum steht die Beschäftigung mit Naturphänomenen gegenüber, die bei GislerGähwiler sowohl in die Geschichte des Universums als auch zum Kunstwerk als kosmischer Skulptur führt. Das Künstlerpaar Mario Gisler und Fabienne Gähwiler zeigt zwei Installationen, die dem unendlichen Wandel auf der Spur sind. Die eine befasst sich mit dem Jetstream, der als gewaltige, aber verletzliche Windskulptur in einer Kuppel erfahrbar wird, während die andere Edelgase als Lichtphänomen sichtbar macht. Die Lichtröhre dafür wurde eigens von einem Glasbläser in den USA hergestellt und mit den flüchtigen Gasen gefüllt, die als Urmaterie sowohl in der Atmosphäre als auch in Lavagestein aus dem Erdinnern zu finden sind. Die Dynamik, die immer neue Formen hervorbringt, sei es im Universum oder in technischen Entwicklungen, wird durch die Bewegung der Betrachter erweitert.

Unsichtbare Verbindungen
Diese letztlich geheimnisvolle Dynamik der Naturgesetze macht Ingrid Käser zum Prinzip ihres Schaffens. Ein organischer Wachstumsprozess bestimmt ihre Zeichnungen, die über Wochen oder sogar Jahre entstehen, während sie an mehreren Papieren gleichzeitig arbeitet. Mit jedem Bildelement ordnen sich die Verhältnisse neu – ganz ähnlich wie in Ingrid Käsers künstlerischer Praxis des Austauschs zwischen Menschen. Die Arbeitsweise auf dem Papier ist unbändig: Schichten werden weggekratzt, übermalt, es wird ausgeschnitten, gerissen, geklebt. Verschiedenste Materialien, Wasserfarbe, Bleistift, Farbstift, Collage und sogar getrocknete und gepresste Kombuchapilze finden ihren Weg auf das Papier. Besonders wichtig sind die Leerräume, entweder als ausgeschnittene oder weisse Flächen. Die Themen wie Berge, Tiere, Sinnliches und Übersinnliches konstellieren sich in Verbindungen, die nur die Künslerin kennt – oder die in der Betrachtung geschaffen werden.

Unmenschlich zivilisiert
In einer weiteren Arbeit zeigt Ingrid Käser zehn Wachsabgüsse eines echten alten Totenschädels, den sie von einem Totengräber bekommen hatte. Zu einem Kreis versammelt, stehen sie in der Ausstellung den Electric Chairs von Andy Warhol gegenüber – ebenfalls eine zehnteilige Serie aus dem Jahr 1971. Die frischen, leuchtenden Farben und der malerische Farbauftrag lassen das Objekt des Schreckens allerdings erst auf den zweiten Blick hervortreten. Das Motiv des elektrischen Stuhls, basierend auf einem Pressefoto, benützte Warhol erstmals 1963, als in Amerika intensiv über die Todesstrafe debattiert wurde. Ganz im Sinn der Popkultur verdeutlicht das Medium Siebdruck die Reproduzierbarkeit – in diesem Fall des Tötens. Durch die Delegation an die Maschine wird die Effizienz gesteigert, ohne dass Blut fliesst. Trotz scheinbar zivilisierter Methode wird deutlich, dass die Grausamkeit bloss ihr Gesicht wandelt. Ist das das Wilde im Menschen? Oder gerade nicht? Sondern vielmehr eine besonders weit vom Ursprung entfernte zivilisatorische Entgleisung?

Stilles Verwildern
Den Schattenseiten der Zivilisation stellt Sandro Livio Straube eine Ästhetik der Vergänglichkeit gegenüber, die den Ehrgeiz und die bisweilen zweifelhaften Errungenschaften des Menschen relativiert. In der fotografischen Serie Berge bleichen zeigt er Orte und Dinge, die sich selbst überlassen sind und damit auch den Betrachter für einen Moment vom Druck befreien, etwas sein zu müssen. Aufgenommen werden sie seit 2015 als fortlaufende Werkserie im Val Lumnezia, einem Bündner Bergtal, das für den Fotografen und Architekten Sehnsuchts- und Lebensort geworden ist. Menschen sind keine auf den Bildern. Ihre Spuren hingegen regen zu möglichen Geschichten an, während sie im intensiven Licht der Berge verblassen oder von der Natur zurückgeholt werden. Das Wilde als Gegensatz zum Kontrollierten geschieht hier ganz still und unscheinbar.

Das ungezähmte Bild
Ähnlich wie der Berg soll auch ein Bild gewissermassen wild sein und sich ereignen, findet Robert Bösch, der sich selbst als Bildersuchenden bezeichnet und darauf verzichtet, seine Fotografien im Nachhinein am Computer zu „zähmen“. Zum Findenden wird er in diesen besonderen Momenten, wenn ein Bild als Bild entdeckt wird – ob im Gebirge oder in einer Grossstadt, ob am Meer oder an einer Strasse. Auch wenn die Berge für den Fotografen, der auch Geograf und Bergführer ist, ein zentrales Thema sind, haben ihn seine Reisen und Expeditionen auf alle sieben Kontinente und in unterschiedlichste Umgebungen geführt. Neben Aufträgen aus Industrie und Werbung arbeitete er für renommierte nationale und internationale Zeitschriften und Magazine.

Im Rhythmus des Unfassbaren
Seit einigen Jahren schafft Georges Wenger Linolschnitte, die für das Medium ungewöhnlich grossformatig sind. Seine Motive, basierend auf eigenem Fotomaterial und Videos, sind Waldstücke, verschlungenes Geäst oder vom Wind aufgewühlte Ährenfelder. Georges Wenger versteht diese Werke auch als Gegenkraft zum Wahn technischer Machbarkeit, indem er mit einfachem Handwerk und Hingabe ein Stück Natur und den Ausdruck des Lebens ehrt. Durch die monatelange Meditation zwischen Schwarz und Weiss verdichten sich nicht nur die Pflanzenstrukturen, sondern auch das Gefühl vibrierenden Lebens, das die existenzielle Vernetzung unter den Menschen und mit allem Lebendigen umfasst. Somit eignet sich der Künstler im handwerklichen Prozess wieder Realität an, greifbar auf handgeschöpftem Papier aus Pflanzenfasern. Es entsteht ein Bild der Unendlichkeit, das sich je nach Blickwinkel vom abstrakten Muster zur wogenden Landschaft wandelt.

Wilde Anlässe
Passend zur dunklen Jahreszeit können sich Besucher am 14. Januar 2023 gleich doppelt in die Wildnis entführen lassen: Nach einem Rundgang durch die Ausstellung wild mit Kurator Guido Baumgartner beginnt beim Eindunkeln die Filmvorführung von Into the Wild, einem Spielfilm von Sean Penn aus dem Jahr 2007, der auf einer wahren Geschichte beruht.
Am 22. Januar diskutieren die beiden Künstler Erwin Schatzmann und Georges Wenger über Lebenskunst, Abenteuer im Morgenland und den eigenen Off-Space.
Weitere öffentliche Führungen gibt es am 14. Dezember sowie am 5. Februar im Gespräch mit den Kunstschaffenden. (ON)

IG Halle im Kunstzeughaus Rapperswil, 4. Dezember 2022 bis 5. Februar 2023

Mittwoch, 14 – 20 Uhr, Donnerstag, 14 – 17 Uhr, Freitag bis Sonntag, 11 – 17 Uhr www.ighalle.ch

 

 


 

 

 

 

 

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