Herrenlose Strassen – was nun?

Verwirrung um herrenlose Strassen in Tuggen – müssen die Anstösser übernehmen? (Foto: Sepp Altmann)

Eigenheimbesitzer in Tuggen erhalten von der Gemeinde die Mitteilung, dass ihre Strassen niemandem mehr gehören. Die Bürger sollen den Unterhalt übernehmen – dagegen regt sich Widerstand.

Sepp Altmann staunte nicht schlecht, als er im Januar 2023 das Schreiben der Gemeinde Tuggen las, welches er am Vormittag aus seinem Briefkasten gefischt hatte. Der Ulmenweg, wo er seit 15 Jahren in einer Eigentumswohnung lebt, gehöre niemandem mehr. Der Besitz an der Strasse sei vom ehemaligen Eigentümer aufgegeben worden, und die Gemeinde nicht dafür zuständig. Die nüchtern formulierte Schlussfolgerung: «Dies bringt einige Probleme mit sich.» Das kann man wohl sagen: Unklar sei von nun an, wer «Unterhalt, Sanierung, Winterdienst usw. regelt und finanziert», heisst es in dem Schreiben weiter. Ein «Investitionsstau» drohe, da kein Kapital für allfällige Investitionen angespart werde. Haftungs- und Rechtsfragen kämen hinzu. Empfohlen wird, eine Flurgenossenschaft zu gründen. Altmann kann es kaum fassen, dass plötzlich die Anstösser den Unterhalt übernehmen sollen. Er fühlt sich überrumpelt. Denn die sogenannte «herrenlose Strasse» bringt in erster Linie eine Menge ungeklärter Fragen mit sich.

Strassenbesitzer wider Willen?
«Mit keinem Wort wurde im Kaufvertrag erwähnt, dass ich Anteile an der Zufahrtsstrasse zu übernehmen hätte», sagt Altmann, Korrespondent der «Obersee Nachrichten». «Im Gegenteil ist darin und somit auch im Grundbuch ein Fuss- und Fahrwegrecht zulasten der Zufahrtsstrasse eingetragen.» Kann eine Strasse, auf der ein Fuss- und Fahrwegrecht eingetragen ist, einfach als herrenlose Strasse deklariert werden? Er habe die Wohnung damals von der Bank Linth erworben, die offenbar die frühere Eigentümerin des nun besitzerlosen Ulmenwegs ist. Die Bank teilte auf Anfrage mit, dass der betroffene Strassenabschnitt im Jahr 2019 als herrenloses Grundstück grundbuchamtlich eingetragen worden ist. «Unsere Bemühungen, das Grundstück der Gemeinde oder den Anstössern abzutreten, war damals leider erfolglos», heisst es in einem Schreiben vom August 2022. Aber wie kann ein Besitzer ein Grundstück einfach abgeben? Und müssen die Anstösser daraufhin die Verantwortung dafür übernehmen?

Wie eine Strasse «herrenlos» wird
Tatsächlich bestätigte das Baudepartement des Kantons Schwyz auf Anfrage, dass das Eigentum an diesem Grundstück aufgegeben wurde, und zwar durch eine sogenannte «Dereliktion» (siehe Kasten). Nach erfolgter Dereliktion wird das Grundstück herrenlos. Laut Zivilgesetzbuch stehen herrenlose Sachen unter der Hoheit des Staates. Das bedeutet, dass der Kanton über die Aneignung bestimmt (ZGB Art. 664). Der Kanton Schwyz teilte auf Anfrage mit, dass zur Aneignung herrenloser Strassen im entsprechenden kantonalen Gesetz jedoch nichts geregelt sei. Offenbar scheint das Problem nun darin zu bestehen, dass nicht die Eigenheimbesitzer, sondern eigentlich die Gemeinde Tuggen Eigentümerin wider Willen geworden ist. Und die Anwohner befürchten nun, dass dies auf sie abgewälzt werden soll. Das Argument der Gemeinde: Es handle sich um Feinerschliessungsstrassen. Für die Feinerschliessung – im Gegensatz zur Groberschliessung – seien die Grundeigentümer zuständig.

Sepp Altmann ist nicht allein, und der Ulmenweg nicht der einzige herrenlose Abschnitt. Auch ein Anstösser der Birkenstrasse (Name der Redaktion bekannt) erhielt ein Schreiben von der Gemeinde Tuggen und kann seine Verärgerung nur schwer verbergen: «Du stehst mit abgesägten Hosen da», sagt der Besitzer einer Eigentumswohnung, der seit 25 Jahren dort lebt. Auch er habe den Kauf ohne Anteil an der Strasse getätigt, wie aus seinem Kaufvertrag hervorgeht. «Sollen wir jetzt für etwas aufkommen, für das wir gar nichts können?» Er zeigt sich enttäuscht von der Gemeinde, von der er sich gewünscht hätte, dass sie die Betroffenen mehr und besser informiert. «Einfach nur eine Mitteilung schreiben und die Anstösser auffordern, den Unterhalt der Strasse zu regeln, das ist etwas zu wenig.» Vor allem wegen der finanziellen Mehrkosten, die wie aus heiterem Himmel auf ihn herabregnen könnten, fühle er sich verunsichert. Er denkt nicht nur an sich: «Versetzen Sie sich in die Situation einer jungen Familie, die gerade eine Anschaffung getätigt hat», sagt er. Dabei gehe es gar nicht nur um finanzielle Aspekte. Wie Altmann steht auch er vor einem Berg von Fragen. Die Antwort darauf ist laut Gemeinde die empfohlene Gründung einer Flurgenossenschaft. Doch damit fangen die Probleme für die Anwohner erst an.

Bürokratismus ohne Ende?
Mit der Gründung einer Flurgenossenschaft müssen alle Betroffenen einverstanden sein. Ein Vorstand, eine Verwaltung und eine Kasse müssen eröffnet, regelmässige Versammlungen abgehalten werden. Jedes Mitglied hat ein Mitspracherecht und wird nach der Grösse des Grundstücks, auf dem sich sein Eigentum befindet, veranlagt. Künftige Ausgaben wie der Unterhalt der Strasse, die Schneeräumung, Sanierungen oder sonstige Investitionen müssen diskutiert und beschlossen werden. Dies alles von Laien, versteht sich, während bei der Gemeinde dafür bezahlte Fachleute angestellt sind. Es entstehe ein Flickenteppich sondergleichen, befürchtet Altmann. Die Koordination der einzelnen Strassen untereinander sowie auch die mit den Werken fehle. Handänderungen müssten auch von der Flurgenossenschaft berücksichtigt werden, es drohe Bürokratismus ohne Ende. «In Zeiten, in denen Körperschaften, ja ganze Gemeinden aus Effizienzgründen zusammengelegt werden, will man in Tuggen eine Zerstückelung des Strassennetzes vornehmen.» Nicht zuletzt entstehe ein finanzieller Minderwert für die Eigentümer, den diese unverschuldet tragen müssten. Allgemeine Verunsicherung ist zu spüren.

Gemeinsam ist den Anstössern, dass sie die Situation schlicht und ergreifend als ungerecht empfinden. Wie der Besitzer eines Einfamilienhauses (Name der Redaktion bekannt), der seit 2009 im Quartier lebt. Seine Parzelle reiche genau bis an den Strassenrand, die Strasse selbst sei ausparzelliert. Ihn stört: «Der ursprüngliche Besitzer, der verkauft hat, hat irgendwann Geld damit verdient. Und jetzt schleicht er sich davon.» Nach seinen Recherchen müsse der Staat und damit der Kanton übernehmen. «Wenn die eine Seite einfach sagen darf, sie möchte das Grundstück nicht mehr haben, müssen wir das doch auch sagen dürfen», sagt Sepp Altmann. «Ich bin enttäuscht von der Gemeinde Tuggen, die sich hinter dem Erschliessungsplan verbirgt. Schlussendlich sind wir Betroffenen Steuerzahler, die zum gleichen Steuersatz besteuert werden wie diejenigen, die an einer von der Gemeinde unterhaltenen Strasse wohnen.»

Kräfte bündeln
Gemeinsam mit anderen Anstössern versucht Altmann, Kräfte zu bündeln und Informationen zu sammeln. Es geht nicht nur darum herauszufinden, was alles auf sie zukommt, sondern auch, wen und wie viele es betrifft. Um zu vermeiden, dass jeder als Einzelkämpfer auftreten muss, können sich Betroffene unter der E-Mail-Adresse Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein. melden. Gemeinsam soll geklärt werden: Wer ist betroffen? Wer hat Vorabklärungen gemacht? Existieren bereits anwaltliche Gutachten? Auch diesbezüglich hätten sich die Anstösser mehr Initiative von der Gemeinde gewünscht. Dass sie die Betroffenen zusammenbringt, sie umfassend informiert und ihre Verunsicherung ernst nimmt. Eine Pflicht, die Flurgenossenschaft zu gründen, bestehe ja gar nicht, wie die Gemeinde in einem Schreiben vom 30. März bestätigt. Wäre es dann nicht umso wichtiger, mit der Bevölkerung den Dialog zu suchen? Sepp Altmann und seinen Mitstreiter verfolgen die Angelegenheit weiter und mobilisieren die Nachbarschaft. Der Gesprächsbedarf ist gross. Die Bereitschaft, eine Lösung zu finden, hoffentlich auch.

Rafael Muñoz Luño

Dereliktion
Eine Dereliktion bezeichnet als Rechtsbegriff das freiwillige Aufgeben des Eigentums an einer Sache. Es handelt sich um eine einseitige Willenserklärung beziehungsweise ein einseitiges Rechtsgeschäft, durch welches der Eigentümer sein Eigentum am Grundstück aufgibt, ohne es auf einen anderen zu übertragen. Mit der Dereliktion wird ein Grundstück herrenlos. Die Pflicht, das Eigentum in polizeigemässem Zustand zu erhalten, entfällt.

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