Drei Jahre und ein Tag

Anne (l.) und Sophia sind seit einem Dreivierteljahr auf Wanderschaft: «Die positiven Erlebnisse überwiegen.» Foto: M. Wassner

Anne und Sophia wandern, arbeiten, folgen einer uralten Tradition. Unterwegs in Deutschland, Österreich und der Schweiz kamen sie kürzlich in Jona vorbei. Über eine Mischung aus Freiheit und Entbehrung.

Sie haben einen weiten Weg hinter sich, sind noch lange nicht am Ziel. Sie sind insgesamt drei Jahre und einen Tag unterwegs, fern der Heimat. Anne und Sophia, zwei Mittzwanzigerinnen aus Deutschland, sind fremde Frei­reisende (frd. fr.), Wandergesellinnen. Davon gibt es noch einige Hundert im deutschsprachigen Raum, geschätzte 20 Prozent davon Frauen. Es handelt sich um eine Tradition, die zurückgeht bis ins Mittelalter. Nach der Lehre musste der Geselle auf Wanderschaft gehen. Anne und Sophia sind seit etwa neun Monaten unterwegs. «Wir gehen oft auf der gleichen Route, waren zusammen in Österreich und Deutschland.» Eine Richtung gibt es nicht. Man gehe eher in Kreisen, nicht in geraden Routen. Um überhaupt starten zu dürfen, mussten die beiden Frauen zahlreiche Kriterien erfüllen. Ein Gesellenbrief sei nötig, man müsse unter 30 sein, kinderlos, unverheiratet, schuldenfrei. «Man muss praktisch losgehen mit weisser Weste», bringt es Anne auf den Punkt. Ausserdem dürfe man sich während der Reise nicht näher als 50 Kilometer dem Heimatort nähern. Das nennt sich Bannmeile. Die Idee dahinter: «Man soll es sich nicht zu einfach machen.» Und deshalb bleibt der Wanderer nur maximal drei Monate beim gleichen Arbeitgeber. «Wir dürfen auch kein Geld ausgeben für Unterkunft und Transport», erklärt Sophia die weiteren Regeln. Gekauft werden nur Lebensmittel und absolut Notwendiges. Handys gehören nicht dazu. Kamera und Tagebuch müssen reichen.

Arbeiten auf Zeit

Gekleidet sind Anne und Sophia in Rot. Die Farbe ist gewerkabhängig. Schwarz das Holz, weiss der Maler. Rot ist eine Sammelfarbe für Form- und Textilwerke, die beiden sind Kirchenmalerinnen. Sie lernten sich an der Berufsschule in München kennen. Nach der Ausbildung gingen sie auf Wanderschaft. Am Obersee hat Sophia einen Job gefunden bei einer Maler- und Restaurationsfirma in Jona. Da wird sie für drei Monate arbeiten. Vielen Betrieben komme so eine befristete Anstellung ganz recht, sagt sie. «Aber nicht alle kennen das. Sie sind manchmal überrumpelt. Wir können uns eben auch nicht normal bewerben im Vorhinein. Deshalb bin ich einfach hineingegangen und habe gefragt.» Jetzt freut sie sich schon auf den Job. Und: «Die Firma hilft mir auch bei der Wohnmöglichkeit.» Wobei es bei der Wanderschaft nicht nur ums Arbeiten geht. Auch Besichtigungen, Land und Leute kennenzulernen, spielen eine Rolle. Dafür wird das erwirtschaftete Geld ausgegeben. «Es ist nicht die Idee, reich zu werden und mit einem vollen Konto heimzukehren.»

Das Positive überwiegt

Die letzte Nacht hatten die beiden in einem Bauerngebäude neben dem Kloster Wurmsbach verbracht. Wo man heute schlafen wird, ist häufig unklar. «Natürlich hoffen wir immer, einen Schlafplatz zu finden. Es braucht hilfsbereite Menschen», sagt Anne. Aber die meisten Leute seien sehr ­offen. «Man darf nicht vergessen: Es macht ja auch Freude, helfen zu ­können.» Die Reisenden erzählen von einem Beispiel in Schaffhausen. Dort waren sie kürzlich. «Wir wussten nicht so recht weiter, waren müde. Dann kam eine sehr nette Dame und half uns spontan mit einem Schlafplatz aus.» Auch Pfarrhäuser seien oft gute Adressen. Was die bisherigen Erfahrungen gezeigt haben: «Die positiven Erlebnisse mit den Menschen überwiegen. Die Leute helfen oft, wenn man es gar nicht mehr erwartet.» Bei der Frage, wessen Angebot man annimmt, und was man lieber ablehnt, höre sie auf ihr Bauchgefühl, sagt Sophia. Aber wirklich ­Negatives haben sie noch nicht erlebt. Eher mal einen Scherz – «ah, ihr seid Schornsteinfeger in Rot» – oder eine kleine Unverfrorenheit. «Manche meinen, dass sie uns einfach fotografieren dürfen, ohne zu fragen. Auch hörten wir schon abfällige Sprüche wie ‘Hier geht man arbeiten’. Die Wahrheit ist: Wir arbeiten sehr viel.» Auf der anderen Seite stehen Freundschaften, die man aufbaut, Netzwerke, die man knüpft. Wobei es gerade am Anfang hart ist. «Die ersten drei Monate gibt es eine Kontaktsperre nach Hause.»

Eine Schule fürs Leben

Bald trennen sich die Wege der beiden Frauen. Sophia arbeitet in Jona. Anne hat eine Anstellung in Tschechien gefunden. «Im Januar werden wir uns vielleicht wieder treffen und ein Stück zusammen unterwegs sein.» So der Plan. Und dann, nach drei Jahren und einem Tag, geht es zurück in die Heimat. Wieder ins «normale» Leben. Wunsch- oder Angstvorstellung? «Die Freiheit aufzugeben wird sicher nicht leicht werden, aber dafür haben wir dann wieder ein eigenes WC, eine Türe, die wir schliessen können, und Privatsphäre», sagt Anne mit einem Lachen. Konkrete Pläne haben sie nicht. «Wir sind ja noch zweieinviertel Jahre unterwegs.» Was Anne und Sophia bereits gesammelt haben, sind ­Erfahrungen, die sie weitergeben können, Empfehlungen für junge Menschen, die es ihnen gleichtun möchten: Informieren könne man sich auf den Internetseiten der sogenannten Schächte. Das sind Vereinigungen von Handwerkern, die auf Wanderschaft sind oder waren. Möchte man als Frei­reisender unterwegs sein, gilt: «Es braucht jemanden, der dir alles beibringt. Eine Art Mentor. Der sagt dir auch, wann du bereit bist, und nagelt dich vor dem Aufbruch mit dem Ohrläppchen am Tisch fest, ein Ritual.» Tönt martialisch, sei aber halb so wild, versichern die beiden Frauen. Also, muss man ein spezieller Typ Mensch sein, um auf Wanderschaft zu gehen? Anne und Sophia verneinen. In erster Linie gehe es darum, sich zu überwinden und es einfach durch­zuziehen. «Zurückhaltendere Typen machen es sich vielleicht zur Aufgabe, durch die Wanderschaft offener zu werden.» Eben: Es ist eine Lebensschule. Michel Wassner

 

 

 

 

 

 

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