Im biblischen Alter von 45 Jahren holte der Wangener Veloprofi Giuseppe Atzeni seinen elften Meistertitel als Steher. Auch der Wettergott stand ihm bei. «Giusis» Zukunft ist trotzdem so offen wie die Rennbahn in Zürich-Oerlikon.
Im Veloshop von Atzeni Race an der Kreuzstrasse 39 im schwyzerischen Wangen hängt im Schaufenster gleich neben dem Eingang ein Poster. «In Loving Memory Gino Mäder» steht über einem Schwarz-Weiss-Foto von «Giusi» Atzeni mit dem am 16. Juni während der Tour de Suisse verstorbenen Veloprofi Mäder (26). Das Foto entstand Mitte November 2021. Atzeni: «Ich konnte Gino damals ein Velo verkaufen.» Mäder war auf der Rückreise aus Spanien, an der Vuelta a España wurde er zum besten Jungprofi gekürt, das Trikot schenkte er seinem Ausrüster Atzeni. Nach einem Sturz am Albulapass verstarb Mäder in diesem Sommer im Kantonsspital Chur. «So schnell kanns gehen, deshalb ist mein Motto schon lange: Geniesse dein Leben», sagt Routinier Atzeni in seiner Werkstatt. Hier sass bei seinem letzten Besuch auch der viel zu früh verstorbene Mäder. Atzeni brachte ein Rad auf Vordermann, Mäder las daneben ein Buch. Atzeni: «Er sprach nicht viel.»
Bangen um die Tochter
Ein anderer Schicksalsschlag hätte Atzeni diesen Herbst fast um seinen elften Schweizer Meistertitel gebracht. Die elfjährige Tochter versuchte einen Handstand. «Sie fiel dabei ‹ungespitzt› in den Boden», sagt Atzeni, «sie verletzte mehrere Halswirbel, ich sah schon den Rollstuhl vor mir.» Der dreifache Europameister hinter dem Steher-Töff sagte für die Schweizer Meisterschaften in Zürich-Oerlikon ab. «Da half mir aber unverhofft der Wettergott. Das Rennen wurde verschoben, und als ich darauf vernommen habe, dass es mit unserer Tochter doch nicht so dramatisch ist, habe ich mich auf die Meisterschaften vorbereitet.» Die Tochter konnte übrigens ihre Halskrause inzwischen wieder abnehmen.
Am 26. September stieg auf der Offenen Rennbahn in Zürich-Oerlikon die Meisterschaft. Atzenis 19. Teilnahme. Und er holte seine 19. Medaille. Rekord, ebenso wie sein elfter Titel. Atzeni: «Dieser elfte Titel bedeutet mir mega viel. Ich bin 45, ich habe eine Scheissfreude. Ich habe jetzt 19-mal an einer Meisterschaft teilgenommen und 19-mal eine Medaille gewonnen. Das hat es wohl im Sport noch nie gegeben, nicht mal im Jassen oder Kegeln, das ist einfach geil.» 40 Kilometer oder 120 Runden waren auf der 333,33 m langen Bahn zu fahren. Den Zweiten, Jan Freuler (Neffe des ehemaligen Glarner Sprintkönigs Urs Freuler), überrundete Atzeni mit seinem Schrittmacher Mathias Luginbühl dreimal, den Dritten, Til Steiger, sechsmal – und den Vierten, Matthias Studer, neunmal. Im Schnitt fuhr Atzeni im Windschatten seines Schrittmachers 70,4 Kilometer pro Stunde. Eher durch Zufall kam der ehemalige Radquer- und Strassenprofi Atzeni nach einem Handgelenksbruch 2001 zum Steher-Sport. «Ich war zuvor noch nie auf einer Rennbahn gewesen. Als ich gesehen habe, wie steil die Bahn ist, sagte ich: Ihr habt ja einen Knall!» Die Steigung in den Steilkurven der Betonpiste beträgt über 40 Grad. Atzeni: «Beim ersten Mal bin ich nur dem Töff nachgefahren, ich glaube sogar, ich habe den Töff gestossen – aus Angst, abzustürzen.» Nur einen Tag später fuhr Atzeni in seinem ersten Rennen hinter Schrittmacher René Aebi gleich auf Rang 3. 2003 holte Atzeni, Sohn eines sardischen Gastarbeiters und einer Schweizerin, seinen ersten Titel. Die ersten Sechstagerennen in Dortmund, Stuttgart und Berlin fuhr der Doppelbürger im Trikot des italienischen Meisters.
Siegerstrauss für blonde Kristin
Dank dem Steher-Sport lernte der Märchler 2009 in der ehemaligen DDR seine heutige Gattin Kristin kennen (die ON berichteten Anfang März dieses Jahres). Die Blondine, die heute täglich auf dem Rennrad sitzt und auf Instagram über 112 000 velobegeisterte Follower hat, begleitete ihre Mutter anstelle ihres erkrankten Vaters zu einem Steher-Rennen im brandenburgischen Forst. Bald hatte Atzeni während des Rennens nur noch Augen für die blonde Zuschauerin. «Giusi ist fast auf die Fresse gefallen, weil er mich angeschaut hat», erzählte Kristin. Die verliebten Blicke des Schweizer Stehers blieben auch dem Kommentator nicht verborgen. Der rief ins Mikrofon: «Atzeni, Atzeni! Konzentrier’ dich auf die Bahn und nicht auf die Forster Schönheiten.»
«Giusi» gewann, schenkte den Siegerstrauss Kristin. Ein Jahr später stand der Schweizer in Forst vor Kristins Tür. Heute sind die beiden ein eingespieltes Veloteam und Eltern zweier Kinder. Übrigens: Die Steher-Saison 2023 ist Geschichte. Peilt Atzeni im nächsten Jahr die 20. Medaille in Folge an? «Ich weiss es nicht. Wer weiss schon, was im nächsten Jahr sein soll», sagt Atzeni. Kristin verdreht bei diesen Aussagen die Augen, sie sagt: «Das höre ich jetzt schon seit Jahren – und Giusi macht immer weiter.» Ein Vorbild ist Guillermo Timoner. Der Spanier startete mit 57 Jahren zum letzten Mal an einer Steher-Weltmeisterschaft. Der sechsfache Weltmeister starb am 17. August dieses Jahres mit 97.
Max Kern