Als Dorf und Kirche im Wasser verschwanden

Ein einschneidendes Ereignis, das tiefe Wunden verursachte: Die Kirchensprengung in Innerthal. (Foto: zVg)

Vor 100 Jahren musste das Dorf Innerthal der modernen Stromgewinnung weichen. Ein Gedenkanlass möchte an dieses grosse Opfer erinnern.

Bereits seit dem 19. Juli 1924 floss das Wasser in den neuen Stausee. Die Bewohner von Innerthal liessen sich Zeit mit dem Räumen ihrer Häuser, fand der Historiker Michael van Orsouw heraus. Das Wasser war bedrohlich nahegekommen, doch erst, als es bis zu den Türen ihrer Häuser reichte, sahen sie sich gezwungen, klein beizugeben. «Die Einheimischen mussten die seit Jahrhunderten genutzten Höfe und Weiden verlassen und den Fluten überlassen.» Am 9. August dann, um 14.20 Uhr, fiel der Kirchturm unter der Wucht einer Sprengstoffexplosion in sich zusammen, die Kirche von Alt-Innerthal zerbarst. Für die Bewohner war es der schmerzhafte Höhepunkt einer Entwicklung, die sich abgezeichnet hatte.

Opfer nicht einfach vergessen
Vom 9. bis 11. August organisiert die Pfarrei Vorderthal diverse Anlässe, um der Kirchensprengung in Alt-Innerthal und der Flutung des Dorfes zu gedenken. Bereits seit März erinnert eine grosse Markierungsboje im Wägitalersee an den einstigen Standort der Kirche. Am 100. Jahrestag der Kirchensprengung soll am Seeufer eine Heilige Messe gefeiert werden. Am Samstag wird es während des «Spiels ohne Grenzen» der Feuerwehr Vorderthal und dem Sommernachtsfest der «Funatiker» einen Wettbewerb mit Fragen rund um Alt-Innerthal und die historischen Ereignisse geben. Am Sonntag wird Weihbischof Marian Eleganti der Heiligen Messfeier in der neuen Kirche von Innerthal vorstehen. Als besonderer Gast wird alt Bundesrat Ueli Maurer dem historischen Tag mit einer Rede eine nationale Note geben, welche Geschichte und Gegenwart zu würdigen weiss. Dem heutigen Pfarrer des Wägitals, Guido Hangartner, ist es ein Anliegen, den Anlass nicht als «Feier» zu bezeichnen. «Das Ereignis vor 100 Jahren beinhaltet auch heute noch in gewisser Weise ein Trauma. Das Wägital hat seit der Pestzeit kein so einschneidendes Ereignis mehr erlebt wie die Kirchensprengung und die Seestauung im Innerthal.»

Hälfte der Bevölkerung weg
Rund die Hälfte der Dorfbevölkerung war praktisch über Nacht weg. Deshalb möchte Hangartner jenes Ereignis aus drei Perspektiven beleuchten: Aus der Sicht der Verbliebenen, aus der Sicht der Vertriebenen und aus der Sicht der Nachkommen der Verbliebenen und der Vertriebenen, welche zum Teil immer noch Innerthaler Bürger sind. «Wir denken oft, dass 100 Jahre eine lange Zeit sei, doch es ist für viele die Generation der Grosseltern, welche betroffen war, und es den Kindern und Enkeln noch aus erster Hand berichten konnte.»

Grosse historische Tragweite
Pfarrer Hangartner war es ausserdem wichtig, dass ein alt Bundesrat kommt, um dem historischen Tag eine nationale Note zu geben. «Ein amtierendes Regierungsmitglied ist aufgrund der politischen Gegebenheiten immer versucht, politisch zu argumentieren. Ein alt Bundesrat (…) kann helfen, Wunden zu heilen.» Die Seestauung sei schliesslich ein Ereignis gewesen, welches nicht nur das Wägital betraf. «Der Strom, welcher durch das Kraftwerk erzeugt wurde, war ja nicht für das Wägital bestimmt, sondern für die Stadt Zürich.» Es ist ihm wichtig, die Opfer nicht einfach zu vergessen und dennoch den heutigen Gegebenheiten gerecht zu werden.

Denkt man an die heutigen Ereignisse in Zeiten der Energiewende, so lässt sich nachvollziehen, unter welchem Druck die Menschen damals standen. Der Bau der Staumauer war unter mehreren Aspekten ein Ereignis, das grosse Veränderungen ankündigte. Es war ein ingenieurtechnisches Meisterwerk, ein Weltrekord, der viele Schaulustige anzog. «Die Dimensionen des Kraftwerks Wägital übertrafen zu dieser Zeit alles bisher Dagewesene», schrieb die heutige Betreiberin des Kraftwerks, die Axpo AG, 2021 in einer Medienmitteilung zum 100-Jahr-Jubiläum der Gründung. Schliesslich stand auch die Schweiz jener Zeit im Schatten einer Energiewende. «Wer sich in den 1920er-Jahren gegen das Projekt stellt, hat einen schweren Stand», schrieb Michael van Orsouw in einem Beitrag für das Schweizerische Nationalmuseum. Der Bau des Elektrizitätskraftwerks sei nötig geworden, weil der Stromverbrauch in der Schweiz zwischen 1910 und 1920 massiv gestiegen war. Immer mehr Haushalte wurden elektrifiziert: Anstelle von Gas wurde mit Strom gekocht, die Bügeleisen mit glühenden Kohlen hatten ausgedient. Hinzu kam die Weltpolitik. «Der Erste Weltkrieg hat gezeigt, wie verwundbar die Schweiz ohne genügend eigene Energie ist.» Die Argumente des Natur- oder Heimatschutzes hatten keine Chance. Dem riesigen Nutzen musste das kleine Dorf weichen. «Das Werk produziert bis heute klimafreundlichen Strom für Tausende Haushalte», feierte sich die Axpo AG 2021 selbst. In jener Zeit brachte der Ingenieur Ernst Bütikofer die Stimmung so auf den Punkt: «Ohne Wunden geht es nicht. (…) Das Kleine muss sich opfern, wenn Grosses entstehen will.»

Tiefe Wunden
Die Wunden reichen tief. Bis zum letzten Augenblick wehrte sich der damals in Innerthal wirkende Pfarr-Resignat Julius Dietzendanner mit allen Mitteln gegen die Sprengung der Kirche, in gewisser Hinsicht die Seele der Innerthaler. «Die Kirche hat eine hohe symbolische Bedeutung», sagt der Wangner Autor Beat Hüppin, der sich in seinem Roman «Talwasser» mit dem Schicksal von Innerthal auseinandersetzte (siehe Interview S.16). Die Bevölkerung versuchte bis vor das Bundesgericht, die Vernichtung ihres Dorfes zu verhindern. Umsonst. Die Häuser unterhalb der Kirche standen bereits unter Wasser, als der Sprengstoff die Kirche zerfetzte. Dorf und Kirche waren bald versunkene Vergangenheit. Im Gedenken soll sichergestellt werden, dass die Opfer, welche die Bevölkerung leisten musste, nicht einfach vergessen gehen.

Rafael Muñoz

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